„Sprünge ins kalte Wasser“ – Ein etwas anderer Sommer in Finnland
Nach dem Abschluss des Tiermedizin-Studiums hat man den Kopf voller theoretischer Kenntnisse, doch fehlen einem in der Regel die praktischen Fertigkeiten, denn während Studium und Praktika bekommt man kaum die Gelegenheit, selber Hand anlegen zu dürfen.
Da fällt es später schwer, an sich zu glauben und selbstbewusst in das Berufsleben zu starten.
Was für eine neue Erfahrung war es daher für mich, als ich für einige Jahre in Finnland gelebt und dort eine Zeit lang gearbeitet habe. Im hohen Norden ist es einen Großteil des Jahres dunkel und kalt und wenn in den wenigen Sommermonaten die Sonne auch nachts nicht untergeht, wollen die meisten Finnen das Leben genießen und die Arbeit erst einmal sein lassen. Das war DIE Chance für mich als junge Tierärztin mit wenig Praxiserfahrung! Denn die Kollegen der städtischen Tierarztpraxen in der Umgebung waren froh, dass sie die Flucht ergreifen und mir als Vertretung ihre Praxis und die gesamte Kundschaft überlassen konnten (auch wenn ich kaum Finnisch konnte und eine Tiermedizin-Studentin für mich übersetzen musste).
Hatte man bei seinen Diensten keine Ahnung, wie man bei einem Patienten vorgehen sollte oder war man auf der Suche nach einem bestimmten Diagnosewerkzeug, Instrument oder Formular, hatte man in der Regel keine Möglichkeit mit der Tierärztin der Praxis in Kontakt zu treten geschweige denn Hilfe zu erwarten (denn sie saß in ihrem Sommerhaus in der Sauna). Und die nächste Tierklinik, die auch nachts oder am Wochenende Dienst hatte, war eine stundenlange Autofahrt entfernt. Da war dann oft guter Rat teuer und man musste versuchen, die Situtationen so gut wie möglich selbst zu meistern.
In besonderer Erinnerung an diesen etwas anderen Sommer in Finnland ist mir der folgende Arbeitseinsatz geblieben:
In einem Kuhstall irgendwo in der finnischen Pampa musste ich bei der vaginalen Untersuchung einer trächtigen Kuh eine Torsio uteri feststellen, die manuell nicht korrigiert werden konnte. Nach Rücksprache mit meiner finnischen Kollegin blieben mir als Alternativen ein Kaiserschnitt (den ich bei einer Kuh ein einziges Mal in meinem Leben gesehen und selbstverständlich noch nie selbst durchgeführt hatte) oder die Euthanasie. Da ich aus Liebe zu Tieren meinen Beruf gewählt habe, habe ich mich für die erstgenannte Variante entschieden und stand dann eine gefühlte halbe Ewigkeit schwitzend in diesem schmutzigen und viel zu dunklen finnischen Kuhstall, um zumindest zu versuchen, durch die Laparatomie die Kuh und ihr Kalb zu retten.Und es hat sich gelohnt! Das anschließende Gefühl, den ersten Kaiserschnitt bei einer Kuh erfolgreich durchgeführt zu haben, war definitiv unbezahlbar.
Mein Sommerjob in Finnland hat mir in vielerlei Hinsicht geholfen und mir gezeigt, dass es manchmal durchaus notwendig ist, ins kalte Wasser geworfen zu werden. Denn nur so kann man Erfahrungen sammeln und lernen, schwierige Situationen selbständig zu meistern und an sich zu glauben. Und das ist als Berufsanfänger unglaublich wichtig!
Artikel von Tierärztin Tonia Olson
Die Autorin hat 2005 ihr Veterinärmedizin-Studium in München abgeschlossen. Bei ihrem anschließenden mehrjährigen Aufenthalt in Skandinavien war sie u.a. in einer städtischen Gemischtpraxis tätig. Nach der Elternzeit arbeitet sie nun in einer Kleintierpraxis in der Nähe von München. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder, eine Katze und einen Hund.